Ist das schon Wohnzimmer oder noch Theater?

Kürzlich habe ich einen Artikel über das Benehmen im Theater gelesen, der mich dazu verleitet hat, meine Gedanken zu dem Thema auch mal von der Seele zu schreiben.

Den Artikel kann man nachlesen auf http://www.nzz.ch/feuilleton/buehne/nur-noch-zwei-minuten----1.18671359

Wann immer ich ins Theater gehe, mache ich daraus ein kleines Event. Die Vorfreude beginnt schon, wenn ich das Ticket für eine lang ersehnte Musical-Vorstellung oder ein Konzert endlich in der Hand halte. Und sie steigt mit jedem Tag, der mich der Veranstaltung näher bringt.

Vielleicht liegt es daran, da ich solche Ereignisse so zelebriere, dass ich auch immer versuche, mich an dem Abend immer besonders herauszuputzen. Ein Musicalbesuch in Freizeitkleidung käme für mich nunmal einfach nicht in Frage. Das liegt schon alleine an den teilweise sündhaft teuren Preisen für die Tickets, dass ich mich dem Anlass entsprechend benehme - und kleide.

Eine Ansicht, die ich mit immer weniger Menschen zu teilen scheine. Denn wann immer ich ins Theater gehe, sehe ich mehr und mehr Menschen, die mir erscheinen, als wären sie nur zufällig dort. Und obwohl sie auf den teuersten Plätzen sitzen, scheinen sie keine 2 Euro für die Gardrobe übrig zu haben, denn sie pellen sich dort aus ihren dicken Wintermänteln und legen diese auf den Schoß, oder wenn der Sitznachbar besonders viel Glück hat, knüllen sie unter den Sitzen zusammen. Darunter ergibt sich eine Komposition von Sweater und Jeans, die allenfalls in einen abgedunkelten Kinosaal gehört.

Sicher ist es eine Errungenschaft der Moderne, sich nicht an alte Normen halten zu müssen. Eine Freiheit, die wir alle nur zu gut zu schätzen wissen. Wir leben in einer Zeit der Übertreibungen, vielleicht gehen wir deshalb in Alltagsklamotten ins Theater. Vielleicht haben wir aber auch einfach nur vergessen, in bestimmten Lebenslagen wertzuschätzen.

Haben wir den Respekt vor dem verloren, was uns auf der Bühne geboten wird?

Mich entführt ein Musical im besten Fall für die Dauer der Vorstellung in eine andere Welt, der Gesang, die Schauspieler und das Bühnenbild entführen mich in eine Traumwelt, in der ich mit den Figuren mitleide und mich wohlfühle. Da ist es doch nur angemessen, wenn ich den Darstellern und allen, die mit an so einer Produktion hängen, ein Mindestmaß an Respekt entgegenbringe. Dazu gehört nicht nur, dass ich mich nicht in Daunenjacke ins Publikum setze, dazu gehört auch und vor allem, dass ich mein Handy nicht erst auf eine Ermahnung hin genervt auf "lautlos" einstelle und dazu gehört, dass ich am Ende der Vorstellung wenigsten sitzen bleibe, bis der letzte Vorhang zufällt, wenn ich mich schon nicht du tobendem Applaus oder gar Standing Ovations hinreißen lassen kann.

Es hat sicherlich auch seine Vorteile, wenn in Theater weniger strenge Regeln gelten. Gehe ich in London beispielsweise spontan in eine Vorstellung, für die ich erst am Nachmittag noch ein günstiges Ticket am Leicester Square ergattern konnte, dann finde ich es beinahe erfrischend, wie locker alles ist. Wenn ich dort zwischen Touristen, die ihre Shoppingtüten mitbringen und Locals, die ihr Bier aus dem Plastikbecher trinken, sitze, dann stört mich das alles für einen Augenblick überhaupt nicht. Dann blende ich das Drumherum aus und konzentriere mich ganz auf das Geschehen auf der Bühne. Spätestens jedoch das ersten Rascheln der Chipstüten holt mich in die Wohnzimmeratmosphäre zurück und lässt mich daran erinnern, wieso ich das Ganze dann doch lieber zelebriere.

Ein lockeren Umgang finde ich gut. Aber ich finde auch Dresscodes, Anstand und Respekt gut. Vielleicht können wir lernen, diese Dinge miteinander zu vereinbaren. Vielleicht können wir auch im Anzug oder Cocktailkleid unser Bier aus dem Becher trinken und uns beim Schlussapplaus freuen, dass wir einen schönen Abend hatten - Teil von etwas Einzigartigem sein konnten. Vielleicht könnten wir dann ein Momentchen länger in unserer Traumwelt verweilen anstatt schon vor dem letzten Ton das Handy wieder einzuschalten.